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Geschichte der Gastarbeiterinnen aus der Türkei in Deutschland und Ihre Musik
Konzept, Text, Mix & Forschung: Kornelia Binicewicz/ Ladies on Records; Interviews: Aysel Aycan Aktaş; Illustrationen: Gizem Winter
Hör den Mixtape
Soundtrack von Intimität der Sehnsucht
Die langfristige Sehnsucht ist normalerweise still und privat.
"Intimität der Sehnsucht" ist ein Weg, die hörbar und sichtbar zu machen.
Tracklist:
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Matem İle Zarı İmam Hüseyin - Mürüvvet Kekilli (Grafson) - intro
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Yar Beni Beni - Aynur Gürkan (Yağmur Plak)
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Ayrılık Mektubu - Gülcan Opel (Topkapı)
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Gurbette Ömrüm Geçecek - Nezahat Bayram (Grafson)
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Gurbetin Yolları Uzun - Aynur Gürkan (Yağmur Plak)
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Gurbet Ellerinde Söyler Ağlarım - Nezahat Bayram (Columbia)
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Bırak Şu Gurbeti - Huri Sapan (Elenor Plak)
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Almanya’ya Gidiyorum Mehmedim -
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Asuman Çevikkalp (Areg Ses)
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Sarmaş Dolaş Olmuştuk - Zehra Sabah (Sağbaş Plak) - Intro
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Gurbet Treni - Gülcan Opel (Topkapı)
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Bana Aşkı Tarif Et - Mürüvvet Kekilli (Hülya Plak)
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Gurbet - Neşe Karaböcek (Elenor Plak)
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Nasıl Oldu Yolum Düştü Köln'e - Yüksel Özkasap (Turkofon)
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Gurbet Yorganı - Esin Afşar (Disko Plak)
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Recep - Asu Maralman (Evren)
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Gurbet Türküsü - Melike Demirağ (Hop)
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Almanya Aci Vatan - Selda (Türküola)
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Zından Oldu Sensiz - Yüksel Özkasap (Türküola)
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Almanya Dönüşü - Zehra Sabah (Sağbaş Plak) - Intro
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Kadere Geçti Ömrum - Mürüvvet Kekilli (Türküola)
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Gurbet - Semra Sine (Emi)
Die Vertrautheit der Sehnsucht
Willst du das ganze Projekt lesen? Hier hast du es!
Für all die mutigen Frauen
Jahrzehntelang hat das Phänomen der Frauenmigration weltweit in der historischen und anthropologischen Forschung kaum Erwähnung gefunden. Auch die Arbeitsmigration von Frauen aus der Türkei ist dabei weitgehend unbeachtet geblieben. Mit der Annahme, dass die Abwanderung männlicher Arbeitskräfte das Phänomen der “Gastarbeiter” in Deutschland umfassend abbildet und beschreibt, wurde die Geschichte der Frauen in diesem Zusammenhang in erheblichem Maße außer Acht gelassen. Die Wahrnehmung von Frauen als Menschen, die sich hauptsächlich an den vorgegebenen gesellschaftlichen Rollen als Braut, Ehefrau und Mutter ausrichten, hatte zur Folge, dass die Forschung die persönlichen Entscheidungen, Wünsche und Ziele dieser Frauen nicht berücksichtigt hat. Die öffentliche Meinung richtet ihr Augenmerk auf Frauen vor allem als Opfer des patriarchalischen Systems. Diese Sicht wird durch die Scheu der Frauen, ihre Geschichte zu erzählen, noch zusätzlich verschärft.
Um ein umfassenderes Bild der Geschichte der “Gastarbeiterinnen” zu zeichnen, haben wir drei wesentliche Narrative miteinander verbunden: das ganz Persönliche aus den biographischen Interviews, das die individuellen Erfahrungen der Frauen in den Vordergrund stellt, das Populäre anhand der Musik und der Lieder sowie die jüngsten anthropologischen Studien zu diesem Thema.
Das Projekt " Vertrautheit der Sehnsucht " ist vor allem den einzelnen Frauen und ihren Kindern zu verdanken, die sich bereit erklärt haben, ihre Geschichte zu erzählen. Durch tatsächliche Begegnungen und lange Gespräche - sowohl von Angesicht zu Angesicht als auch mittels Zoom - hatten wir die einmalige Gelegenheit, einen Einblick in das Gefühlsleben jener Frauen zu bekommen, die in den Jahren zwischen 1961 und 1991 nach Deutschland eingewandert sind. Ihre Lebensgeschichten sind das Herzstück dieses Projekts. Die ganz persönlichen Fragen zu Liebe, Kraft, Anstrengungen, Freuden, Enttäuschungen, zu Sehnsüchten und der Musik haben uns dabei geholfen, ein Stück von dem, was unverfälscht ist, einzufangen. Die individuellen Lebensgeschichten der Frauen haben dabei unser Verständnis für die Geschichte des Ganzen gefestigt.
Die Bedeutung von Kulturerzeugnissen wie der populären Musik, einem der wichtigsten Bausteine im Narrativ von "Vertrautheit der Sehnsucht", ist nicht zu unterschätzen. Populäre Musik beleuchtet bestimmte, von der Allgemeinheit getragene Elemente, verschleiert aber diejenigen, die als unbequem oder für das bestehende kulturelle Gefüge als bedrohlich empfunden werden. Als wir unsere Fragen stellten und den Antworten aufmerksam zuhörten, erfuhren wir, dass Musik einen wesentlichen Bestandteil des Alltagslebens der Migrantinnen darstellte. Mehr noch, wir fingen an zu verstehen, wie es ihnen gelang, Musik als Mittel zum Überleben einzusetzen.
“Vertrautheit der Sehnsucht" ist ein Versuch, die Migrationsgeschichte von Menschen aus der Türkei nach Deutschland aus dem Blickwinkel von Frauen zu erzählen. Wir haben uns mit dem Gefühlsleben der Frauen aus der Türkei befasst, die versuchten, sich in einer neuen Lebenswirklichkeit eine tragfähige Identität anzueignen. Das Projekt zeigt nur einen winzigen Ausschnitt dieser Geschichte und erkundet lediglich einige wenige Facetten dieser geteilten Erfahrung. Der Grundstock unserer Geschichte beruht auf sehr persönlichen Gesprächen, bei denen nicht alles unmittelbar und unverzüglich erzählt werden kann oder soll.
1.
Am 30. Oktober 1961 unterzeichneten Deutschland und die Türkei ein gegenseitiges Abkommen über den Export von Arbeitskräften. Dieses Anwerbeabkommen sollte das Leben vieler Generationen verändern. Wie kann man sich also nun das Profil eines “Gastarbeiters” ausmalen? Werfen wir kurz einen Blick auf die Zahlen.
Der Frauenanteil unter den ausländischen Beschäftigten in Westdeutschland lag 1965 bei 23 % und 1973 bei fast 30 %. Jeder dritte der nach 1961 zum Arbeiten nach Deutschland ausgewanderten Menschen aus der Türkei war eine Frau.
Die Nachfrage nach männlichen Arbeitskräften war in den westeuropäischen Ländern wesentlich höher, so dass Männer die Mehrheit der Antragsteller und Einwanderer nach Deutschland ausmachten. Die Arbeitsmigration wurde nach einem geschlechtsspezifischen Arbeitskräftebedarf gestaltet. Industriezweige wie Bergbau, Metallverarbeitung, Hoch- und Tiefbau, der immer größer werdende Wirtschaftszweig der Autofabriken, Elektro- und Metallbetriebe verlangten nach starken Händen männlicher Arbeitskräfte. Andererseits wurden in der Textilindustrie, in Telekommunikationsbetrieben, im Hotelgewerbe und in Krankenhäusern Frauen für präzise und manuelle Arbeiten angeworben. Infolge der rückläufigen Industrieentwicklung stieg die Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften 1967 stark an. Die deutschen Arbeitgeber hatten einen gezielten Bedarf an weiblichen Arbeitskräften und suchten in den meisten Fällen alleinstehende Frauen oder solche, die keine Kinder hatten. Es ist wichtig zu erwähnen, dass viele von ihnen aus großen türkischen Städten wie Istanbul, Izmir, Ankara und Adana kamen. Sie waren gebildet (hatten Abitur oder einen Universitätsabschluss) und kamen aus verschiedenen sozialen Milieus, sowohl aus der Arbeiterklasse als auch aus der bürgerlichen Mittelschicht. Mit anderen Worten: Die weibliche Migration war äußerst heterogen.
"Von den Frauen, die die Türkei verließen, um zu arbeiten, waren 37,3 % ledig, 44,8 % verheiratet und ein jeweiliger Anteil von 9 % verwitwet oder geschieden. Entgegen der weit verbreiteten Meinung und vor allem in den Anfangsjahren des Migrationsgeschehens machten sich die Frauen oft nicht auf den Weg nach Deutschland, um ihren Ehemännern zu folgen. In vielen Fällen waren die Frauen die Vorreiterinnen der Migration und holten erst später ihre Familien nach.“ (Lea Nocera, 2015)
In den ersten Jahren der Anwerbung nach Deutschland kamen die Frauen allein und befreiten sich von der Obhut und Kontrolle ihrer Familien. Sehr oft lebten sie in Wohnheimen mit anderen Frauen, arbeiteten äußerst hart Tag für Tag, hatten aber gleichzeitig auch einen größeren Freiraum für Selbsterkenntnis und die Erschließung einer neuen Lebenswirklichkeit, neuer Menschen und ihrer Kultur. Die Geschichte der Mutter von İpek Ipekçioğlu ist ein eindrucksvolles Beispiel für die heterogene Migration türkischer Frauen in den 1960er Jahren:
"Meine Mutter kam in den frühen 60er Jahren. (...) Sie kam auf eigene Faust und begann als Büroleiterin zu arbeiten und verkaufte Versicherungen. Sie hatte vor, zu gehen und zu bleiben; sie hatte nicht die Absicht, in die Türkei zurückzukehren. Sie war nicht verheiratet, und sie kam mit zwei Kindern. Später, hier in Deutschland, hat sie fünfmal geheiratet, zweimal denselben Mann, hauptsächlich türkische Männer, einmal einen Deutschen."
İpek, 2. Generation
Die Situation änderte sich 1974, als die offizielle reguläre Zuwanderung eingestellt wurde, was zu einer erhöhten Zahl von Migrantinnen führte, die im Rahmen der Familienzusammenführung einreisten. Die Zahl der Frauen aus den ländlichen Gebieten der Türkei, die nach Deutschland auswanderten, nahm zu. Viele von ihnen schlossen sich ihren Ehemännern an und fanden sich in der gleichen familienbezogenen Wirklichkeit wieder, die sie aus ihren Dörfern kannten.
Die Unterschiede zwischen denen, die eigenständig kamen, und denen, die gemeinsam mit ihren Ehemännern einwanderten, wurden von Gülüzar aufgezeigt, die uns von ihrer Ankunft in Deutschland im Jahr 1973 berichtet. Ihre Schwester Perihan ging als erste nach München, um als alleinstehende Frau zu arbeiten. Gülüzar zog zu ihrem Mann, der seit 1971 in Deutschland lebte und arbeitete, als sie mit ihrem ersten Sohn schwanger war.
“Meine Schwester kam vor mir; ich kam neun Monate später. Sie wohnte im Heim und fand dadurch gute Freunde. Sie ging neue, andere Wege. Ich würde also sagen, sie hat die bessere Wahl getroffen. Ich zog in ein Haus mit weiteren Familienmitgliedern meines Mannes - mit zwei seiner Brüder und deren Familien. Es war ein Haus mit drei Familien in einer Wohnung, mit sehr wenig Privatsphäre. Ich hatte das Gefühl, aus dem Haus in meinem Dorf (in der Region Malatya) in ein anderes Haus im Dorf zu ziehen; es gab keine große Veränderung."
Gülüzar, 1. Generation
Gülüzar und auch viele andere Frauen lebten in Haushalten mit Schwiegereltern, Brüdern und anderen Familienmitgliedern ihrer Ehemänner. Dieses Phänomen " beeinträchtigte auch den rechtlichen Status von Migrantinnen, indem es ihre Ansprüche einschränkte und ihre Abhängigkeit gegenüber ihren Ehemännern verstärkte". (Ezgi Güler, 2013)
Die meisten nach Deutschland ausgewanderten Frauen aus der Türkei waren externen und internen Ausgrenzungsfaktoren ausgesetzt. Der nach Geschlechtern getrennte Arbeitsmarkt mit einem sehr geringen Lohnangebot (viel niedriger als für Männer) und das patriarchalische Gefüge der türkischen Familie sorgten dafür, dass sie in der gesellschaftlichen Rangordnung ganz unten standen. Dennoch beschlossen nur wenige von ihnen, nach Ablauf ihres Arbeitsvertrags aufzugeben und in die Türkei zurückzukehren, während viele von ihnen ihre Möglichkeiten und Stärken in einer Weise entdeckten, die ihnen half, in dieser neuen Wirklichkeit zu überleben.
2.
Wenn wir versuchen, die Gründe für die Migration von Männern und Frauen in fremde Länder zu untersuchen, ist der verbreitetste Beweggrund wirtschaftlicher Natur. Das Ziel scheint auf der Hand zu liegen: Geld verdienen, der Armut, der Arbeitslosigkeit und den Schulden entkommen, eine bessere Gegenwart und Zukunft für sich und ihre Familien im Heimatland aufbauen. Auch im Falle der Türkei ist dies von entscheidender Natur. Doch neben den wirtschaftlichen Beweggründen für die Einwanderung von Frauen spielen auch noch andere persönliche Bedürfnisse wie Emanzipation, Selbstverwirklichung, Bildung und Freiheit eine Rolle.
Der Grund, warum unsere Mädchen und Frauen nach Deutschland gehen, liegt nicht in dem Wunsch, Geld zu verdienen, sondern in dem Wunsch, in einem Zustand der "Freiheit und Gleichheit" zu leben. Im Vergleich zu den Männern haben die türkischen Frauen, die in Deutschland arbeiten, ein höheres Bildungsniveau, gehören zur Mittelschicht der Großstädte und entscheiden sich für die Ausreise mit dem Ziel, dem familiären und gesellschaftlichen Druck zu entkommen und in einem Umfeld zu leben, das von Freiheit und Offenheit geprägt ist" (Tercüman, 1964). Dieser Auszug aus einer türkischen Zeitung deckt sich mit der Aussage von Ipek Ipekcioglu über den Hintergrund der Entscheidung ihrer Mutter, nach Deutschland auszuwandern:
"[Meine Mutter] wollte hier studieren. Sie kam, weil sie die patriarchalische Ordnung in der Türkei satt hatte. Sie wollte frei sein, und sie hatte das Gefühl, dass Frauen in der Türkei nicht frei sein konnten."
Ipek, 2. Generation
Einige Frauen, die nach Deutschland kamen, ließen sich jedoch von reiner Neugierde oder dem Bedürfnis nach materiellen Errungenschaften "nur für sich selbst" leiten. Türkische Tageszeitungen, die über die Abenteuer von Migranten berichteten, beschrieben junge türkische Frauen, die beschlossen, nach Deutschland zu gehen, um finanziell unabhängig zu werden, ein neues Auto zu kaufen und dann zurückzukehren und einen angemessenen türkischen Mann zu heiraten. Auch Sabahat, eine der Schwestern der berühmten türkischen Sängerin Gönül Turgut, ließ sich anwerben und zog nach Berlin, um Geld zu verdienen und ein luxuriöses Auto zu erstehen.
3.
Wird die Geschichte der “Gastarbeiter” erzählt, so beginnt sie oft mit ihrer Ankunft in Deutschland. Aber für die türkischen Migranten, sowohl Männer als auch Frauen, begann sie bereits in der Türkei: zunächst in ihren Dörfern oder Heimatstädten und dann in Istanbul, wo das lange Bewerbungs-und Auswahlverfahren stattfand. Die Vorbereitung auf die Ausreise war ein langjähriger Prozess verbunden mit Tests, medizinischen Untersuchungen, Terminen und Visumsanträgen.
Nachdem sie von ihren Familien Abschied genommen hatten, begann für die meisten Migranten die eigentliche Reise in der Istanbuler Verbindungsstelle des westdeutschen Arbeitsamtes. Von 1961 bis 1973 kamen rund 866.000 Arbeitskräfte aus der Türkei nach Westdeutschland, die meisten von ihnen mit der Bahn. Im Jahr 1970 beschloss das deutsche Arbeitsamt, neue Arbeitskräfte, insbesondere Frauen, mit dem Flugzeug zu befördern. Zu diesem Zeitpunkt hatten viele Frauen, die mit der Bahn nach Deutschland reisten, die Erfahrung gemacht, dass sie während der mehr als 50-stündigen Fahrt zum Münchner Hauptbahnhof belästigt wurden und weder Komfort noch Privatsphäre oder auch nur einen Sitzplatz zur Verfügung hatten.
“Almanya Treni” Ferdi Tayfur
Die Zugreise nach Deutschland wurde zu einem beliebten Sujet in der türkischen Musik, das den Themenkontext der Trennung, des Schicksals oder der Sehnsucht sowie die Aufbruchstimmung in ein neues Leben behandelt. Einige Lieder romantisierten dabei den fehlenden Hintergrund, wie "Almanya Treni" von Ferdi Tayfur. Andere dienten als Darstellung des Elends derjenigen, die geblieben sind. "Zalım gurbet treni seni elimden aldı" (Der gnadenlose Zug in die Fremde hat dich von mir weggeholt) sang Gülcan Opel in "Gurbet Treni" (1973). Das Stück wurde 1971 geschrieben, ein Jahrzehnt nachdem der erste Zug mit türkischen “Gastarbeitern” den Bahnhof Sirkeci in Istanbul verlassen hatte.
Seit 1961, als der erste Zug Sirkeci verließ, ist der Schwarze Zug (Kara Tren), der Deutsche Zug (Almanya Treni) oder der Istanbul-Express in den Wortschatz jeder türkischen Familie eingegangen, deren Leben sich durch die Migration nach Deutschland grundlegend gewandelt hat. Die Kultur des modernen türkischen Nomadentums hat sich in den Lebensläufen der Menschen in der Türkei eingeprägt. Individuelle und kollektive Beobachtungen oder Erfahrungen wurden Teil der Mythologie des Exils. Die Eindrücke von der Reise nach Deutschland vermengten sich mit den Erzählungen über die anstrengenden Arbeiten, die unmittelbar nach der Ankunft am Münchner Hauptbahnhof auf sie warteten.
4.
Alle “Gastarbeiter” sind nach Deutschland gegangen, um dort zu arbeiten. Sie rechneten mit Entbehrungen, hofften aber auch, genug Lohn zu bekommen, so dass wenigstens die Hälfte des Geldes in die Türkei zurückgeschickt werden konnte. Für die türkischen Frauen, die als Arbeiterinnen kamen, war mit Arbeit die Freiheit verbunden, ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können. Das Recht, selbst zu entscheiden, war für die meisten türkischen Frauen aus den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten nicht gegeben.
"Das, was mich gestärkt hat, war meine Arbeit", antwortet Gülüzar auf die Frage nach ihren Empfindungen angesichts von Sehnsucht, Abgeschiedenheit und der erdrückenden Vormachtstellung ihrer Verwandtschaft. Die Situation, in der sie lebte - ein kleines Haus, das sie mit vielen Familienmitgliedern ihres Mannes teilte - verbesserte sich, als sie die Möglichkeit hatte, das Haus zu verlassen und eine andere Wirklichkeit zu erfahren. "Wenn man erst einmal angefangen hat zu arbeiten, kann man die Veränderung spüren", fügt sie hinzu.
"Meine Familie versteht sich als eine Arbeiterfamilie. Meine Großmutter sagte: 'Wir haben schon immer ans Arbeiten gedacht. Lasst uns nicht aus der Reihe tanzen! Wir sind zum Arbeiten hergekommen.' Das gleiche Verständnis zeichnete alle meine Verwandten aus. Meine Großmutter hatte sich vorgenommen, mehrere Jahre lang zu arbeiten, und hier Geld zu verdienen, um es dann in der Türkei zu investieren..."
Aynur, 3. Generation
Die Migration von Frauen war keineswegs eine homogene Erscheinung, und die Klassenunterschiede spiegelten sich in den Lebensgeschichten der Frauen wider, die wir interviewten. Es ist daher unmöglich, alle Geschichten in Einklang zu bringen und ein klares Bild einer aus der Türkei nach Deutschland eingewanderten Arbeiterin zu zeichnen. Die modernen Großstadtmädchen aus gutem Hause in Istanbul, Adana oder Izmir fühlten sich in kultureller Hinsicht nicht mit den jungen Frauen aus dem ländlichen Anatolien verbunden. Sie kleideten sich anders, sprachen anders und verhielten sich anders als die anderen. Schließlich hörten sie auch andere Musik, um ihrer Sehnsucht zu begegnen. Aber das Gefühl, etwas oder jemanden zu vermissen, war bei ihnen allen ähnlich.
5.
Familie, Heimat und Freunde zu vermissen, ist ein unausweichlicher Teil der Migrationserfahrung. Gurbet - im Türkischen ein Wort, das das Gefühl der Sehnsucht nach der Heimat ausdrückt - ist eines der auffälligsten Charakteristika türkischer Kultur. Obwohl das Wort gurbet schon vor der massenhaften Auswanderung von Menschen aus der Türkei in die westlichen Länder existierte und sich auf die spirituelle Migration in der Sufi-Kultur bezog, erlangte es durch die Erfahrungen der “Gastarbeiter” eine neue Bedeutung.
In all unseren Gesprächen die wir mit den Frauen über Sehnsucht führten, gehörte der Begriff gurbet ganz selbstverständlich zu ihren biografischen Erzählungen.
Die ersten Gastarbeiter lebten zusammen in Wohnheimen und Mietwohnungen, wo sie nach getaner Arbeit gemeinsam Zeit verbrachten und dabei türkischen Klängen lauschten. Bald schon führte die enorme Zuwanderung aus der Türkei nach Deutschland seit den frühen 1970er Jahren dazu, dass sich in vielen deutschen Städten neue Migranten-Communities bildeten. Einige Viertel verwandelten sich in eine "kleine Türkei", mit Lebensmittelläden (bakkal), Kaffeehäusern (kahve), Kulturvereinen (dernek), Märkten (pazar), Moscheen, Reisebüros und schließlich auch Plattenfirmen (wie Türküola, Uzelli, Alparslan, Yüksel und Minareci) und Kassettenläden. Das Konzept des " Zusammenbleibens " war ein grundlegendes Element sozialer Aktivitäten: gemeinsame Picknicks, Ausflüge, Besuche in türkischen Restaurants, Basare, Live-Musik-Shows, Hochzeiten.
"Für uns war alles um uns herum türkisch: unsere Musik war türkisch, unsere Freunde waren türkisch. Wir gingen auf einen türkischen Markt, um etwas aus der Türkei zu kaufen, und alles bedeutete für uns Memleket (Heimatland)."
Emine, 1. Generation
6.
Die in Deutschland lebenden Türken verfolgten sämtliche Nachrichten aus der Türkei mit großem Interesse. Auch die neueste Musik, die in den Studios der türkischen Labels in Istanbul entstand, und die Erfolge der größten Stars erreichten die türkische Diaspora und entsprachen dem Bedürfnis nach emotionalen Liedern aus der Heimat.
"Mein Vater war ein großer Fan von Ferdi Tayfur. Es ist faszinierend, weil er in einem kleinen Dorf geboren wurde und bis zur Grundschulzeit dort lebte. Die meisten Lieder von Ferdi Tayfur handeln von der Natur, von Bergen, Blumen, Insekten und den Klängen jener Naturumgebung, in der mein Vater aufwuchs. Sein Lieblingslied von Ferdi Tayfur war "Emmioğlu". Aber meine Mutter stammt aus einer sehr politischen Familie. Mein Onkel war ein sehr aktiver 68er. Meine Großmutter und meine Mutter lebten unter schwierigen Bedingungen, daher waren politische Volkslieder, Lieder mit entsprechenden Botschaften, sehr wichtig für sie. Onur Akıns "Gaybana Geceler" mochte sie am liebsten und "Kum Gibi" von Ahmet Kaya. Für uns alle war es "Leylim Ley" von İbrahim Tatlıses, das wir auf dem Weg in die Türkei häufig hörten."
Nuray, 1. Generation
Vielen Männern und Frauen diente die Musik als Schutzschild, der ihnen half, die Entbehrungen während der Migration zu überstehen. Nuray, die 1979 im Alter von 16 Jahren zusammen mit ihrer Schwiegermutter in die Türkei kam, bekennt, dass einzelne Lieder bekannter türkischer Künstler aus Deutschland ihr dabei geholfen haben, die ungeheure Einsamkeit zu überstehen und ihre Erschöpfung zu vergessen:
"Yüksel Özkasap hatte ich am liebsten. Sie hatte einen Titel [Almanya'da Ölenler], in dem es hieß: "Sag meiner Mutter, dass ich bald beerdigt werde." Ich hörte ihr zu und wurde immer sentimentaler. "Ich bin müde, meine Freunde, ich bin müde. Ich bin diesen Hügel rauf und runter geklettert, habe gefleht", und wenn sie sagte, dass niemand meine Hand hält, interpretierte ich dies als ein Stück meiner eigenen Lebensgeschichte, daher entsprach es meinem Geschmack."
Nuray, 1. Generation
Hör die Spotifylist
Intimacy of Longing Soundtrack 2
Entdeck die Playlist, die von den Frauen des Projekts "Intimität der Sehnsucht" mitkuratiert wurde.
Die von Nuray erwähnte Yüksel Özkasap ist eine der bekanntesten “Gastarbeitersängerinnen”, deren künstlerische Laufbahn ein Paradebeispiel für ein Kulturerzeugnis der Migration aus der Türkei nach Deutschland darstellt. Sie kam 1966 als unverheiratete, junge, gebildete Frau aus Malatya nach Köln, deren “Gastarbeiter”-Erfahrung zum Leitmotiv ihres musikalischen Werdegangs wurde. Sie heiratete Yılmaz Asöcal, den Gründer des in Deutschland ansässigen türkischen Musiklabels Türküola, und wurde zur " Nachtigall von Köln" und zur Stimme der “Gastarbeiter”.
Die traurigen, herzzerreißenden Lieder von Yüksel Özkasap entsprachen den Gefühlen vieler türkischer Migranten der ersten Generation, die in den 1960er und 70er Jahren nach Deutschland kamen. Die Titel der Lieder wie "Gurbet Mektubu" (Der Brief aus der Fremde) oder "Almanya'da Ölenler" (Die, die in Deutschland starben) wurden unter den türkischen Migranten sehr populär und halfen ihnen, ihre eigenen Gefühle im Umgang mit Migration, Ausbeutung und Einsamkeit zu verarbeiten.
Das Phänomen Yüksel Özkasap verlor seine Strahlkraft für die nachfolgenden Generationen. Die Emotionen ihrer traurigen Lieder waren nicht mehr von Belang. Die 2. und 3. Generation der türkischen Migranten machte neue Erfahrungen in Form von Diskriminierung, Identitätskrise oder kultureller Unsicherheit. Künstler wie Yüksel Özkasap, Asuman Çevikkalp, Mihrican Bahar oder Metin Türköz, die sich auf die Darstellung der Erfahrungen der ersten Generation konzentrierten, lieferten keine Antworten mehr auf die Fragen dieser Generation.
"Ich habe Selda sehr gemocht, sowohl in der Türkei als auch hier. Mahzuni Şerif, Ali Akber Çiçek, Cemile Cevher Çiçek. Ich liebte 'İnce İnce Bir Kar Yağar' von Selda. Damals war 'Yuh Yuh' ein Riesenhit für uns in unserer Jugendzeit. Ich mag viele Lieder und auch Volkslieder von Selda. Wenn man " Yuh Yuh" hörte, empfand man mehr Mut, es zeigte uns, wie wir ehrlich sein und wie wir Widerstand leisten konnten."
Gülüzar, 1. Generation
Türkische Musiker und Sänger wie Selda Bağcan, İbrahim Tatlıses, Ferdi Tayfur, Müslüm Gürses, Orhan Gencebay und Hakkı Bulut wurden von türkischen Migranten in gleichem Maße geschätzt wie von ihren Landsleuten in der Türkei. Für viele Menschen war die Volksmusik wohl die bewegendste - vor allem İbrahim Tatlıses, dessen Lied Uzun die Gefühle von Einsamkeit und Heimweh widerspiegelte.
"Ich habe damals Nuri Sesigüzel und İbrahim Tatlıses gehört. Er war einer von uns"
Hatice, 1. Generation
Nurhan erinnert sich, dass ihre Mutter, die 1971 nach dem Erdbeben in Kütahya auswanderte, Orhan Gencebay hörte, dessen Lieder sie trösteten. Eine neue Kassette oder eine Platte von Orhan war das beste Muttertagsgeschenk.
"Wir konnten nicht in die Türkei kommen, aber wenn hier ein Konzert stattfand, haben wir es nicht verpasst. Es gab auch Filme, Videokassetten. Wir haben sie uns ständig angesehen. Es gab dieses eine Lied über Trennung, "Ben de Özledim". Wenn wir uns die Aufnahmen von Ferdi Tayfur ansahen, mussten wir weinen."
Emine, 1. Generation
Ähnlich erging es auch Behiye, die 1971 als junge Braut, umgeben von neuen Menschen, aus Gaziantep nach Deutschland kam:
"Damals liebte ich die Musik, besonders Orhan Gencebay und sein Lied "Kaderimin Oyunu" haben mich sehr berührt. Ich fühlte eine Sehnsucht und kannte die Menschen um mich herum kaum. Ich habe mich mit meinem Mann verlobt, aber wir haben uns vorher nicht gekannt, also war es, als ob ich mit zwei Fremden [einem Ehemann und einem Schwager] wegginge. Dieses Lied hatte einen großen Einfluss auf mich und ich durchlebe diese Zeit noch immer jedes Mal, wenn ich das Lied höre."
Behiye, 1. Generation
Die Migranten aus der Türkei beobachteten die bewegten Zeiten in ihrem Heimatland, die von beinahe kriegerischen politischen Auseinandersetzungen zwischen der Linken und der Rechten, sowie von zahlreichen Militärputschen und Putschversuchen (1960, 1962, 1971 und 1980) geprägt waren, aus einer sichereren Warte in Deutschland. Die Grenzlinien zwischen Arabeske, Kunstmusik, Volksmusik, anatolischem Rock und verwestlichtem Pop waren auch in der Musikauswahl der im Ausland lebenden Türken erkennbar.
"Arabeske war in den 70er Jahren sehr angesagt, aber bei uns zu Hause war es verboten, diese Musik zu hören. Von einigen Ausnahmen abgesehen, war uns auch Popmusik nicht erlaubt."
Ipek, 2nd generation
In İpekçioğlus Zuhause, dem Haus ihrer alleinstehenden und fortschrittlichen Mutter, war es verboten, arabeske Filme zu sehen. Da ihre Mutter jedoch Versicherungsvertreterin war und die Kinder oft zu ihren Klienten mitnahm, konnten sie sich diese Filme dennoch anschauen. "Wir haben dort alle Ferdi Tayfur-Filme gesehen", erinnert sich İpek.
Die zweite, dritte und vierte Generation von Frauen, die in den 70er und 80er Jahren in Deutschland geboren wurden, wie İpek und Aynur, mit denen wir gesprochen haben, sahen sich mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert, die im Zusammenhang mit der Identität von Migranten stehen.
"Meine Großmutter hat immer gesagt, dass wir anders sind. Sie [die Deutschen] sind anders als wir. Aber sie wollte trotzdem nicht, dass ich auf der Strecke bleibe. Meine Großmutter hatte diese “Gastarbeiter”-Mentalität. Ich kann behaupten, dass ich diese Denkweise durchbrochen habe."
Aynur, 3. Generation
Für in Deutschland geborene Türken, insbesondere für Frauen, spielten Umstände wie Sprachbarrieren und Isolation, soziale Beziehungen nur zu türkischen Nachbarn, Freunden und Kollegen sowie die Abhängigkeit von Familie und Verwandten nicht länger eine entscheidende Rolle.
"Die erste Generation kam und wollte ein paar Jahre hier leben und dann zurückkehren. Sie blieben. Die zweite Generation ist mit dem Gefühl aufgewachsen, dass wir bald zurückkehren könnten, also durften wir uns nicht zu sehr an das Land binden. Ich war mit anderen Kindern der zweiten Generation in der Schule. Sie sagten immer: " Ach, sei nicht so deutsch, iss kein Schweinefleisch, das ist haram!" Meine Mutter war sehr fortschrittlich, aber wir lebten in proletarischen und religiösen Vierteln wie dem Wedding in Berlin. Manche Menschen der 3. und 4. Generation haben immer noch ein kulturelles Problem. "Wir sind Türken", sagen sie. Warum sagen wir nicht: "Wir sind Deutsch-Türken". Aber sie sind schon selbstbewusster und sie erheben ihre Stimme gegen ihre Eltern. Sie wollen auf jeden Fall hier bleiben."
İpek, . Generation
Ihre Mütter und Großmütter blickten auf die Türkei zurück und pflegten eine auf Sehnsucht beruhende Beziehung zu diesem Land. Aber für die nachfolgenden Generationen von Migrantinnen wie İpek und Aynur war die Türkei ein Ort, auf den sie schauten und von dem sie sich manchmal inspirieren ließen. Sie folgten der neuen türkischen Musik und neuen Vorbildern und verarbeiteten bewusst ältere Musik mit einem zeitgenössischen Verständnis:
"Ich hörte Sezen Aksu, vor allem "Gitme Dur Ne Olursun" oder "Firuze", und gleichzeitig viel türkische psychedelische Musik aus den 70er Jahren wie Neşe Karaböcek, Gülden Karaböcek und türkische Tangos. In den 90er Jahren begleitete Sezen Aksu unsere ersten Liebesbeziehungen, unseren jugendlichen Unfug, aber auch kritischere Themen wie Gewalt gegen Frauen. Dasselbe gilt für die Musik von Esmeray mit ihrem Lied "13,5", in dem es um Rassismus in der Türkei geht. Dieses Lied war eine große Offenbarung für uns - türkische Menschen, die in Deutschland leben, einem weißen Land."
İpek, 2. Generation
7.
Für die Migranten, die in der Anfangszeit, den 60er und Anfang der 70er Jahre, nach Deutschland kamen, bestand die einzige Möglichkeit, mit den zurückgebliebenen Familien zu kommunizieren, im Briefwechsel. Wenn sie nicht lesen und schreiben konnten, was vor allem bei Frauen, die aus ländlichen Gebieten der Türkei kamen, häufig der Fall war, erhielten sie Hilfe von einem nahen Familienangehörigen oder einem türkischen Nachbarn.
"In den ersten drei Monaten hat mir Deutschland überhaupt nicht gefallen. Ich hatte immer Kopfschmerzen, weil ich aus einer kleinen Stadt kam. Hier war es sehr überfüllt. Ich hatte kein Telefon, ich konnte nicht lesen, ich konnte keine Briefe schreiben. Ich habe immer schon eine Woche vorher jemanden gefragt: "Würdest du einen Brief für mich schreiben? Weil sie mich nicht zur Schule geschickt hatten, habe ich nichts verstanden, ich war wie ein Kind."
Nuray, 1. Generation
Behiye erinnert sich an die Einsamkeit ihrer ersten Jahre in Deutschland. Damals, 1971, waren Briefe die einzige Möglichkeit, mit der zurückgelassenen Familie in Kontakt zu treten, und es dauerte wenigstens 15 Tage, bis ein Brief zwischen der Türkei und Deutschland beim Empfänger ankam.
"Der Ort, an dem ich wohnte, lag in der Nähe des Waldes. Damals fuhr der Postbote mit seinem gelben Auto durch die Stadt. Und ich stand am Fenster und wartete. Natürlich fuhr er zuerst zu den Häusern in der Nähe der Berge, aber ich konnte mich nicht vom Fenster wegbewegen. Ich habe gewartet, bis er vor unserer Tür anhielt."
Behiye, 1. Generation
Briefe zwischen Deutschland und der Türkei wurden auch in der türkischen Musik zu einem beliebten Motiv für Lieder. Titel wie "Gurbet Mektubu" (Der Brief aus der Fremde) und "Zeyneb'in Mektubu" (Der Brief von Zeynep) wurden von zahlreichen Künstlerinnen sowohl in der Türkei als auch in Deutschland interpretiert, darunter Yıldız Tezcan, Yüksel Özkasap und Asuman Çevikkalp. Die Lieder dienten als öffentlich zugängliche Briefe voller Klagen und Kummer über den Verlust der geliebten Lebenswelt. Es war ein Ritual, mit den Familien, Eltern, Geschwistern und Freunden, die in der Türkei geblieben waren, in Kontakt zu bleiben. Auch an Telefonate, in denen es darum ging, sich über das Geschehen in der Heimat zu erkundigen, erinnert sich eine unserer Gesprächspartnerinnen, Nurhan:
"Jeden Morgen, bevor wir zur Schule gingen, riefen wir meine Großeltern in der Türkei an. Daran erinnere ich mich sehr gut. Sie hatten die Nummern 30 und 80. Ich habe mich deshalb immer mit der Türkei verbunden gefühlt, so dass ich, wenn ich in Rente gehe, gerne dorthin zurückkehren würde."
Nurhan, 2. Generation
Sowohl bei denjenigen, die sich zum Bleiben entschlossen, als auch bei denjenigen, die am Ende zurückkehrten, war das Bedürfnis, der Türkei nahe zu sein, stark ausgeprägt und wurde durch die jährliche Sommerreise in das Dorf, die Heimatstadt und die beliebten Sommerurlaubsorte an der türkischen Küste gestillt. Die einzigartige Mischung aus Sehnsucht und Pragmatismus trug dazu bei, dass sich eine weitere lebenspraktische Variante im Leben der türkischen Migranten aus Deutschland etablierte: der Verbleib der Kinder in der Türkei oder deren Entsendung dorthin.
8.
Aus emotionaler Sicht brachte die Entscheidung, für zunächst maximal 2 Jahre in ein anderes Land zu gehen, traumatische Trennungserfahrungen mit sich. Für viele Männer und Frauen aus der Türkei bedeutete die Einwanderung nach Deutschland, ihre Kinder bei ihren Familien in der Heimat zurückzulassen. Die Kinder wuchsen ohne Mutter und Vater auf in der Hoffnung, bei der Rückkehr der Eltern wieder vereint zu sein.
In der populären Darstellung war es meist die Frau, die zum Opfer gemacht und als diejenige gesehen war, die vergessen oder hintergangen wurde. In Wirklichkeit ließen aber auch viele Frauen ihre Kinder in der Türkei zurück und beschlossen, doch nicht zu ihren Männern zurückzukehren. Eine der bezeichnenden Abbildungen dieser Erscheinung war die Geschichte einer Frau namens Zeynep, die zu einer Figur in Ali Ercans Lied "Zeynebim Almanya'nın Yolunu Tuttu" (Meine Zeynep ging nach Deutschland) von 1972 wurde.
Das Lied erzählt die Geschichte von Zeynep, die ihren Mann Mehmed und die Kinder verließ, um nach Deutschland zu gehen und dort zu arbeiten. Das Lied wurde zu einer Art Mahnung vor den zerstörerischen Auswirkungen der Migration von Frauen nach Deutschland. Interessanterweise schrieb ein Nutzer Jahrzehnte später zu einem der Youtube-Uploads des Liedes, dass die Geschichte von Zeynep auf dem Leben einer echten Frau namens Zeynep aus Izmir basiert. Sie reiste 1968 nach Deutschland und ließ ihre gesamte Familie und ihre Kinder zurück, nachdem sie jahrelang von ihrem Mann missbraucht und misshandelt worden war.
Der Fall Zeynep steht für eine gemeinsame, schmerzliche Erfahrung vieler Frauen, die zum Arbeiten nach Deutschland gegangen sind. Die Geschichte von Hatice, die in den späten 60er Jahren nach Deutschland kam und ihre Kinder bei ihrer eigenen Familie zurückließ, ist als schmerzhafter Abschnitt ihres Lebens in Erinnerung geblieben:
"Ich darf nie meiner Sehnsucht freien Lauf lassen; die Sehnsucht kann sehr schwierig sein. Ich habe meine Kinder sehr geliebt. Ich lag einige Monate im Krankenhaus, weil ich so traurig war; ich habe die ganze Zeit an meine Kinder gedacht. Ein Tag kam mir vor wie ein ganzes Jahr. Aber ich musste unter Tränen weiterarbeiten."
Hatice, 1. Generation
“Zeynebim” Ali Ercan
Auch Kinder, die nach Deutschland gebracht oder dort geboren wurden, wurden in die Türkei geschickt, da es unmöglich war, sich um sie zu kümmern. Die körperlich anstrengende und zeitraubende Arbeit in Fabriken oder Krankenhäusern machte die Kindererziehung sehr schwierig. Der Mutterschaftsurlaub für Gastarbeiterinnen betrug nur sechs Wochen. Ercan, der mit uns sprach und uns seine Mutter Emine vorstellte, wurde ebenfalls im Alter von 6 Jahren in die Türkei geschickt, wo er 11 Jahre lang blieb.
"Ich nenne es "zweites Gurbet". Du bist in Gurbet (du vermisst dein Heimatland), dann schickst du deine Kinder in die Türkei, und du erlebst ein zweites Gurbet durch deine Kinder."
Ercan, 2. Generation
Die Rückkehrorientiertheit türkischer Familien brachte die gesellschaftliche Praxis hervor, die Kinder in die Türkei zu schicken, damit sie die türkische Schule besuchten, ihre Muttersprache lernten und die Kinder daran gehindert wurden, zu sogenannten gavurs zu werden (nicht-muslimisch oder nicht-türkisch zu werden).
"Als ich im Internat war, gab es viele deutsch-türkische Kinder wie mich, weil sich ihre Eltern in Deutschland nicht um sie kümmern konnten. Wir waren sehr verbunden durch unsere Einsamkeit, durch das Vergessenwerden seitens unserer Eltern."
İpek, 2. Generation
Viele Kinder türkischer Einwanderer in Deutschland waren mehrmals gezwungen, Verwandte und Freunde zurückzulassen. Einige von ihnen reisten immer wieder hin und her und verbrachten Abschnitte ihres Lebens sowohl in den Heimatstädten ihrer Eltern als auch in Deutschland.
9.
Gurbet und Heimweh wurden auch durch die alljährlichen Sommerurlaube in der Türkei bewältigt. Der Heimaturlaub war ein wesentlicher Bestandteil der Gastarbeitserfahrung. Die Gastarbeiter verbrachten zwischen einem und drei Monaten jährlich in der Türkei. Das beliebteste Transportmittel war ein privates Familienauto, das mit Familienmitgliedern, Gepäck und Haushaltsgegenständen randvoll gepackt war:
"Bis 2005 machten wir jedes Jahr für sechs Wochen Sommerferien in Trabzon. Wir hatten eine Woche Zeit, um das Haus auf Vordermann zu bringen, vier Wochen, um Gäste zu empfangen, dann wieder eine Woche, um das Haus aufzuräumen und zurückzukommen. Ich erinnere mich, dass mein Großvater und meine Großmutter auch mitfuhren und wir das Auto von hier aus volltankten und in die Türkei fuhren. Wir nahmen sogar eine Waschmaschine im Auto mit."
Nuray A., 2. Generation
Jede Familie, die in den Sommerferien in die Türkei fuhr, nahm den gleichen Weg, die Europastraße 5, 3.000 Kilometer durch Österreich, Jugoslawien und Bulgarien. Eine Reise nach Istanbul dauerte mindestens zwei Tage und zwei Nächte, eine Fahrt in abgelegene anatolische Dörfer sogar noch länger. Der alljährlich wiederkehrende Besuch von Türken aus Deutschland prägte eine landläufige Vorstellung von Wohlstand und Wohlergehen. Private Autos waren in der Türkei noch nicht üblich. Gleichzeitig fuhren die Gastarbeiter mit ihren westlichen Autos vor, was bei ihren türkischen Landsleuten das Klischee von einem leichten und luxuriösen Leben verstärkte. Ein gelber Mercedes Benz, eines der beliebtesten Gastarbeiterautos, wurde zum Symbol des Wohlstands der Almancı.
""In meiner Kindheit bin ich einmal jährlich für 1, eineinhalb Monate in die Türkei in Urlaub gefahren. Ich ging auch 2 oder 3 Jahre in die Grundschule dort, da war ich 6 Jahre alt, wie viele andere türkische Kinder aus Deutschland auch. Als ich in die Türkei kam, war ich für die anderen Kinder keine Türkin, ich wurde als Ausländerin wahrgenommen."
İpek, 2. Generation
10.
Ein Gebrauchsgegenstand wurde zum Symbol der Gastarbeiter, die in den Sommerferien "nach Hause" kamen: der Autokassettenrekorder. Die Fahrt mit dem Auto in die Türkei und zurück nach Deutschland konnte nicht ohne einen Kassettenspieler auskommen, der half, die Strapazen der langen Reise zu überstehen.
"Gümüldür (Izmir) war der Ort, an dem wir uns im Sommer aufhielten. Viele Deutschtürken verbrachten dort ihren Urlaub. Wir fuhren mit dem Auto. Meine Mutter ist gefahren, und wir haben im Auto die ganze Fahrt über Musik gehört."
İpek, 2. Generation
Eine symbolische, vorübergehende "Rückkehr" in die Heimat wurde oft mit lauter Musik aus den Autolautsprechern angekündigt. Musikkassetten wurden zum erkennbarsten Merkmal von Reisen zwischen Deutschland und der Türkei. Der private Import/Export von Kassetten hatte zu jeder Sommerurlaubssaison Hochkonjunktur.
"Auf unseren langen Autofahrten hörten wir viel Musik, und wir schleppten die ganzen Kassetten in unseren Taschen mit. Mein Onkel in Istanbul hatte einen Video- und Kassettenladen, und jedes Jahr wenn wir dorthin fuhren, durfte ich mir aussuchen, was ich wollte. Das war wirklich ein Riesending; ich kam mit Kassetten zurück und zeigte sie meinen Freunden, da waren wir 13-14 Jahre alt".
Nuray A., 2. Generation
Drei große türkische Musikvertriebe - Türküola (in Köln), Uzelli (in Frankfurt) und Minareci (in München) - lieferten Musik an türkische Arbeitskräfte in Deutschland. Für viele Türken war die Türkei jedoch nach wie vor der Ort, wo die neuesten Veröffentlichungen zu bekommen waren.
"Wir nahmen etliche Kassetten mit, um sie unterwegs zu hören. Darunter war eine Kassette von Selda: "Yuh Yuh". Als wir (in der Türkei) ankamen, bemerkten wir, dass Selda ein neues Album hatte, "Ziller ve İpler". Wir kauften es und öffneten es dann im Auto. Wir hörten sie uns nur einmal an. Wir sind sofort wieder zu 'Yuh Yuh' zurückgekehrt."
Ercan, 2. Generation
11.
Die Kassettenindustrie begann ihren Boom in den westlichen Ländern in den 70ern und wurde schnell von den Migranten in Deutschland entdeckt. Musik war für Gastarbeiter von Anfang an von Bedeutung: nämlich für die ersten Migranten, die in Wohnheimen lebten. Sie versammelten sich, um Schallplatten zu hören oder um einem Kollegen zu lauschen, der Saz spielte. Ganz zu Beginn, als Kassettenspieler noch eine Seltenheit waren, dienten die Wochenendtreffen der Gastarbeiter an den Bahnhöfen als Tauschbörse für Kassettenspieler und Kassetten. Bald wurden Kassetten und die Geräte zu ihrer Wiedergabe immer beliebter. Nuray, die 1979 als 16-jähriges, frisch verheiratetes Mädchen nach Deutschland kam, blieb über lange Zeit allein zu Hause. Jeden Tag, nachdem sie alle von ihr erwarteten Arbeiten im Haus erledigt hatte, hörte sie Kassetten.
"Ich habe gearbeitet, ich habe von abends bis morgens gearbeitet, ich habe die Kassette angemacht, bis meine Schwiegermutter kam. Unten war ein Nachbarsmädchen, das kam und sich sofort bei meiner Schwiegermutter beschwerte. Da war eine Familie aus einem Dorf bei Ankara, sie sagte: " Tante Hajı, bei euch war der Strom bis abends an, deine Schwägerin hat ständig Musik gehört. İbrahim Tatlıses hatte damals gerade 'Ayağında Kundura' herausgebracht und ich liebe dieses Lied noch immer."
Nuray, 1. Generation
Die Langlebigkeit der Kassetten und das einfache Vervielfältigen trugen zur Verbreitung und zum Austausch von Musik zwischen verschiedenen Familien bei.
"Es gab 4-5 türkische Familien in unserer Nähe und wir tauschten Kassetten untereinander aus. Wenn ich von einem neuen Lied hörte, ging ich hin und fragte den Nachbarn: Hast du die neue Gökhan Güney? Da war eine Familie aus Aksaray, die ganz verrückt nach Ferdi Tayfur war. Es gab eine andere Familie aus Manisa, die war ganz vernarrt in Gökhan Güney, und ich war total begeistert von İbrahim Tatlıses. Ich habe gesagt: "Ich kann Gökhan Güney von eurer Wohnung aus hören. Ich würde ihn mir gerne anhören.' Und sie sagte: 'Ich gebe sie dir, wenn ich fertig bin."
Nuray, 1. Generation
Ein lokaler Musikmarkt bestehend aus Vertriebs- und Tonträgerfirmen begann seine gewinnbringende Entwicklung im Import-/Exportgeschäft. Sie verkauften Kassetten und Schallplatten zusammen mit elektronischem Spielzeug, Vorhängen, Teppichen, Teegläsern, Plastikblumen und Porzellan, den neuesten Elektrogeräten und Fleischwölfen zur Herstellung von Köfte. Kassetten wurden in vielen Tante-Emma-Läden verkauft, was den Zugang zur Musik erleichterte.
"Mein Mann fuhr alle 5-6 Monate nach Köln, um Kassetten zu kaufen. Wenn man in Köln zehn Kassetten kaufte, bekam man eine gratis. Mein Mann konnte sie auch nicht lesen, aber er erriet die Musik anhand der Kassettenhülle. Der Verkäufer (kasetçi) wusste ja, welche Kassetten ich früher schon gekauft hatte. Es gab Uzelli und Türküola-Kassetten, es gab Yüksel Özkasap, Bedia Akartürk, Orhan Gencebay. Dann gab es noch Esengül und alte Volksmusik. Das waren immer gute Kassetten und mein Mann hat sie immer gekauft".
Nuray, 1. Generation
Die großen Plattenfirmen erreichten ihre Kundschaft über regelmäßige Anzeigen in türkischen Zeitungen wie "Hürriyet" oder "Sabah". Die Vertreiber veröffentlichten regelmäßig eine Liste der in Deutschland erhältlichen neuen Kassetten. Außerdem wurden die Import-/Exportgeschäfte sehr häufig mit neuen Kassetten beliefert, manchmal sogar zweimal pro Woche.
12.
Ein weiteres Unterhaltungsbusiness, das sehr stark mit Musik verbunden war, nährte die Sehnsucht der türkischen Migranten in Deutschland und sorgte für eine Verbundenheit zum Heimatland. In den 1970er Jahren wurden in Westeuropa die ersten Videokassetten in den Haushalten angeschafft, wodurch eine Heimvideoindustrie entstand. Die türkischen Migranten nahmen VHS-Kassetten und Videoabspielgeräte auf dem deutschen Markt begeistert auf. Laut Martin Greve gab es 1982 in jedem dritten türkischen Haushalt in Deutschland einen Videorekorder, während nur jeder zwölfte deutsche Haushalt damit ausgestattet war. Dieses zahlenmäßige Missverhältnis spiegelt einen immensen Bedarf an entsprechenden türkischen Inhalten in der Migrantencommunity in Deutschland wider. Der Mangel an attraktiven türkischen Programmen in Fernsehen und Radio führte zu einem Boom in der türkischen VHS-Kassettenindustrie. Der Verleih florierte und verband die Türken wie nie zuvor mit der populären Kultur ihres Heimatlandes.
"Meine Mutter suchte nach Filmen von Orhan Gencebay und Ferdi Tayfur, mein Vater aber war mit dem einverstanden, was wir auswählten. Es kostete zehn Mark, drei Videokassetten in einer türkischen Videothek auszuleihen. Meine Mutter wählte einen Arabesk-Film, einen mit Cüneyt Arkın und eine Komödie mit Kemal Sunal oder İlyas Salman aus".
Ercan, 2. Generation
Die Auswahl der Filme bestand immer aus einem aufgezeichneten Konzert beliebter türkischer Superstars wie İbrahim Tatlıses, Ferdi Tayfur, Ajda Pekkan, Zeki Müren, Orhan Gencebay, oder auch dem Silvesterprogramm (Yılbaşı Eğlence Programı) mit Auftritten vieler Stars aus Türkü, Arabesk, Türk Sanat Μüziği und moderner Popmusik. Die Arabesk- und Yesilcam-Filme, die sehr oft die Migration der Türken nach Deutschland behandelten, schilderten das Leid und die Entbehrungen von Gastarbeitern. Diese Filme instrumentalisierten die romantisierte Sehnsucht und das Leid der Trennung und griffen gleichzeitig die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Spannungen auf. Auch das ambitionierte Kino von Yücel Çakmaklı, Halit Refiğ und Yılmaz Güney, das auf VHS-Kassetten erhältlich war, trug zum Aufbau der kulturellen Identität türkischer Migranten bei.
"Es gab türkische Filme, die wir uns ansahen. Sie auszuleihen, kostete fünf Mark. Wir haben mit anderen Vierteln getauscht. Die Kassetten hatten eine Leihdauer von 3 Tagen, also haben wir in 3 Tagen sieben Filme gesehen, jeweils 1,5 Stunden. Wir haben uns alles angesehen. Zum Beispiel haben wir jeden Film von İbrahim Tatlıses gesehen. Gökhan Güney. Mein Mann liebte Cüneyt Arkın."
Nuray, 1. Generation
VHS-Filme prägten die Mentalität, die Gefühle und die Befindlichkeiten der türkischen Gastarbeiter. Filme von international anerkannten türkischen Regisseuren mit hochkarätigen Darstellern, die wichtige gesellschaftliche und politische Themen wie Feminismus oder geschlechtsspezifische Gewalt behandelten, erweiterten den Horizont und schufen eine reflektiertere Verbindung zur modernen Türkei.
"Die Müjde Ar-Filme waren für uns sehr interessant. Meine Mutter war immer eine Feministin und Linke. Filme wie "Yol" von Yilmaz Güney oder Filme mit Türkan Şoray, waren sehr kritisch und progressiv. Meine Mutter kannte Bülent Ersoy persönlich. Es kamen immer viele Transgender-Leute zu Besuch. Meine Mutter hat viele Partys veranstaltet. Sexarbeiterinnen, Transsexuelle, LGBTQ+, türkische und kurdische Schriftsteller und Künstler besuchten unser Haus"
İpek, 2. Generation
Dank der liberalen Häuser einiger Familien konnten sich viele türkische Migranten der zweiten und dritten Generation als Menschen mit doppelter kultureller Identität definieren, die offen sind und das "Anderssein" ihrer selbst und der Menschen um sie herum begrüßen.
13.
Die Aussicht, eines Tages in die Türkei zurückzukehren, wurde zu einem Leitmotiv der Gastarbeiterkultur. Sie hat das Leben der einzelnen Menschen und der Gemeinschaft entscheidend geprägt. Das 1961 unterzeichnete Abkommen zwischen den beiden Ländern stützte sich auf Kurzzeitverträge (maximal zwei Jahre). Koffer, die zum Packen bereitstanden, waren ein selbstverständlicher Teil der Einrichtung in türkischen Häusern. Von den Gastarbeitern wurde erwartet, dass sie wieder gehen.
Diejenigen, die sich zur Rückkehr in ihre ursprüngliche Heimat entschlossen, wurden durch die Unerträglichkeit des Gurbet, fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten, Fremdenfeindlichkeit und rassistische Übergriffe angetrieben. Manchmal waren die Gründe auch gesundheitlicher Natur, der Wunsch nach einem Ruhestand in der Türkei oder die staatliche Politik. Am 28. November 1983 verabschiedete die Bundesregierung das Gesetz zur Förderung der freiwilligen Rückkehr, das allen türkischen Einwanderern, die sich bis zum 30. September 1984 entschlossen, Deutschland zu verlassen und in die Türkei auszuwandern, eine "Rückkehrprämie" (10.500 D-Mark, plus weitere 1.500 D-Mark pro Kind) gewährte. Lediglich 15 % der türkischen Einwanderer - 250.000 Männer, Frauen und Kinder - kehrten in die Türkei zurück, nachdem ihre Aufenthaltsgenehmigung an der westdeutschen Grenze für ungültig erklärt wurde.
"Almanya Dönüşü" Zehra Sabah
Die Rückkehr nach Hause war oftmals mit bittersüßen Empfindungen behaftet. Für die Gastarbeiter war die Zeit in Deutschland anders verlaufen als für diejenigen, die in der Türkei geblieben waren. Die Verlockungen einer neuen Wirklichkeit, einschließlich neuer Freunde und Lieben, machten es schwer, Anschluss an die Ehefrau oder den Ehemann und die Kinder zu finden. Eines der eindrucksvollsten Beispiele für ein Begrüßungslied ist Zehra Sabahs "Almanya Dönüşü" (Rückkehr aus Deutschland).
In den meisten Fällen war die Entscheidung, in die Türkei zurückzukehren, das Vorhaben der Männer, die versuchten, ihre Entscheidungen der ganzen Familie aufzuzwingen. Gülüzar, die 1974 zu ihrem Mann zog, erinnert sich, dass ihr Mann in den 80er Jahren beschloss, zurückzukehren. Die Familie packte ihr ganzes Leben in Koffer. Doch aufgrund eines Familienstreits kam es nicht dazu. Sie gestand, wie glücklich sie war. "Wenn es nach mir ginge, würden wir niemals zurückkehren wollen." Ihre Tochter Olcay erinnert sich genau an diesen Moment:
"Meine Mutter sagte: 'Du bleibst hier, du musst studieren, und du musst etwas erlernen, mit dem du dein eigenes Brot verdienen kannst. Wir putzen Hotels, aber du wirst es besser haben.' Die Vorstellung, einen Hochschulabschluss zu machen, war für meine Mutter und ihre Familie sehr wichtig. Jeder meiner Cousins mütterlicherseits hat einen Studienabschluss."
Olcay, 2. Generation
Manchmal glückte der Plan der endgültigen Rückkehr (kesin dönüș), und die Familien zogen zurück an die Orte, aus denen sie Jahrzehnte zuvor gekommen waren. Die Rückkehr war schwierig und verschlang einen Großteil des Geldes, das sie in den Jahren in Deutschland angespart hatten. Die Wiederanpassung an die türkische Lebenswirklichkeit kostete Zeit und Mühe.
Doch viele der türkischen Familien blieben in Deutschland oder, wie Fatih Akin sagt, "vergaßen, zurückzukehren".
“We forgot to come back” Fatih Akin
Als wir uns die Geschichten der Frauen anhörten, wurde uns klar, dass die meisten von ihnen in Deutschland bleiben und ihr Leben dort fortsetzen wollten, wo sie größere Freiheit, Unabhängigkeit, mehr Möglichkeiten, ein größeres persönliches Netzwerk und neue Fertigkeiten erlangten. Einige von ihnen fanden eine Möglichkeit, teilweise in Deutschland und teilweise in der Türkei zu leben, was für sie am vorteilhaftesten war.
"Selbst ich kann nicht glauben, was ich getan habe, wenn ich jetzt davon erzähle", sagt Behiye, die seit 1971 in Deutschland lebt. Sie kam als junge Braut nach Deutschland, litt unter Einsamkeit und Sehnsucht in dem fremden Land, umgeben von Unbekannten, und blieb jahrelang allein in ihrem Haus. Aber sie schaffte es, in den langen einsamen Tagen Deutsch zu lernen und versuchte, sich neue persönliche Freiräume zu schaffen. Gegen den Willen ihres Mannes eröffnete Behiye 1991 ihre eigene Schneiderei, und feierte am 5. September 2021 ihre 50-jährige Eigenständigkeit in Deutschland.
"Vertrautheit der Sehnsucht" umfasst eine Vielzahl an Geschichten. Die von Aynur, Hatice, Nuray, İpek, Olcay, Gülüzar, Nurhan, Nuray A, Ercan, Emine, Melissa und Behiye sind nur einige davon. Wir hatten das Glück, dabei zu sein und ihnen zuhören zu dürfen.
Danksagungen:
Ich möchte mich Aynur, Hatice, Nuray, İpek, Olcay, Gülüzar, Nurhan, Nuray A, Ercan, Emine, Melissa und Behiye herzlich bedanken, dass sie ihre Lebensgeschichten mit uns geteilt haben.
Ich bin Dr. Reimar Volker und dem Goethe-Institut in Istanbul sehr dankbar, dass sie mir die Möglichkeit gegeben haben, dieses Projekt zu verwirklichen.
Ohne die Unterstützung von Ercan Demirel (Ironhand Records) und Olcay Demirel, Lea Nocera, Gizem Winter, Aysel Akcan Aktaş und Ruddi Sodemann wäre ‘’Intimität der Sehnsucht’’ nicht möglich gewesen.
Schließlich möchte ich mich bei meinen Freunden aus Istanbul bedanken, die mich bei meiner täglichen Arbeit unterstützen.